"Töten Sie mich, sonst sind Sie ein Mörder!"

  • Berliner Morgenpost
  • 4 March 2003
  • Ulrich Weinzierl

Kafkas unbekannte Briefe an Robert Klopstock, in dessen Armen er starb

Seinen letzten Freund lernte Franz Kafka erst als Kranker kennen. Es war 1921 im Sanatorium Matliary in der Hohen Tatra. Auch der ungarische Medizinstudent Robert Klopstock litt an Tuberkulose. Das Leiden und die jüdische Herkunft hatten seinen Ausschluss vom Studium in Budapest bewirkt. Die Sympathie zwischen Kafka und dem literarisch interessierten Klopstock war wechselseitig. Der Ältere versuchte dem Jüngeren, wo immer möglich, zu helfen. Zeitweise durfte Klopstock sogar in der väterlichen Wohnung am Altstädter Ring Quartier beziehen. Der "Mediciner" wiederum, so nannte ihn Kafka, war ein Bindeglied zu den übrigen Patienten und zur Außenwelt.

Max Brods Briefausgabe von 1958 hat nicht alle Schreiben Kafkas an Klopstock abgedruckt. Im Nachlass Robert Klopstocks und seiner 1995 verstorbenen Frau Giselle sind 38 Schreiben Kafkas aufgetaucht, davon sieben unbekannte, die übrigen waren um zum Teil bedeutsame Zusätze gekürzt. Der Wiener Antiquar Hugo Wetscherek bietet das verschollen geglaubte Konvolut zum Preis von 1,2 Millionen Euro an. In wenigen Tagen wird ein wissenschaftlich aufwändiger Katalog samt kommentierter Edition der Briefe publiziert (Kafkas letzter Freund. Der Nachlass Robert Klopstock (1899-1972). Bearbeitet von Christopher Frey und Martin Peche. Hg. Hugo Wetscherek. Wien, Inlibris 2003, 312 S., 65 Euro). Der Band erhellt das Bild jenes Mannes, der laut Ernst Pawel, dem Biografen Kafkas, zuletzt dessen "Vater, Richter und Gott" geworden war.

1937 sollte Robert Klopstock übrigens Klaus Mann bei seiner Drogenentziehungskur in Budapest betreuen. Dank der Unterstützung von Thomas Mann und Albert Einstein gelangte der Emigrant 1938 in die Vereinigten Staaten, wo er als Universitätsprofessor eine beachtliche Karriere machte. Der freundschaftlich-therapeutische Verkehr mit der Familie Mann endete mit Klaus Manns Selbstmord 1949. In den Tagebüchern des Vaters findet sich die Eintragung: "Das Gift, Entwöhnungsmittel zugleich, hat er von dem idiotischen Klopstock erhalten." Robert Klopstock als Sterbehelfer? Im Falle Kafkas ist er es jedenfalls in des Begriffs schönstem, tiefstem Sinn gewesen.

Kafkas letzte irdische Station war das Sanatorium Dr. Hoffmann in Kierling bei Klosterneuburg. Kurz zuvor hatte er den alarmierten Freund beschworen, ihn nicht zu besuchen: "Robert, lieber Robert, keine Gewalttaten, keine plötzliche Wiener Reise." Naturgemäß ist Robert Klopstock trotzdem, Anfang Mai 1924, in Kierling aufgetaucht - zum Glück und Segen für den Moribunden. Längst ging es bloß darum, dem Sterbenskranken das Sterben zu erleichtern. Der Schwindsüchtige wog nur 45 Kilo. Da die Schmerzen unerträglich geworden waren, flehte Kafka den Freund an: "Töten Sie mich, sonst sind Sie ein Mörder!" Man verabreichte ihm Pantopon. Als sich Klopstock vom Bett erhob - er wollte die Spritze reinigen -, bat Kafka: "Gehen Sie nicht fort." Auf Klopstocks Antwort "Ich gehe ja nicht fort" erwiderte er: "Aber ich gehe fort." Franz Kafka schloss die Augen. Er starb an Herzlähmung. Es war der 3. Juni 1924.