Rezension: Max Reinhardt. Manuskripte, Briefe, Dokumente (FAZ)

  • Frankfurter Allgemeine Zeitung
  • 17 June 1998

Rezension in: FAZ, 17.06.1998, Nr. 137
Rezensent: Ulrich Weinzierl

Zauberer mit 1700 Nummern

Katalog einer Legende: Der Nachlaß des Regisseurs Max Reinhardt gehört nach Wien

Er war der Erfinder der Spezies Regisseur, wenigstens in der Personalunion von Künstler und Star. Stets galt er in seinem Metier und außerhalb als großer Verzauberer und Liebhaber; er konnte Massen ebenso inszenieren wie das subtilste Kammerspiel der Gefühle: Max Reinhardt ist im ersten Drittel unseres Jahrhunderts der ungekrönte König des deutsch-österreichischen Theaters gewesen. In mehr als einem Dutzend Berliner Bühnen hatte der Konzern- und Schlossherr zwischen 1902 und 1933 das Sagen. Als der Emigrant 1943 in einem New Yorker Hotel verstarb, ging eine Epoche zu Ende, die Reinhardt-Legende überdauerte indes sämtliche Stile und Moden bis heute.

Vergleichbar zählebig erwies sich der Kampf um sein materielles Vermächtnis. Er reicht bis zum jüngsten, noch nicht beigelegten Restitutionskonflikt rund um das Berliner Deutsche Theater. Auch die Erben - Reinhardts Kinder und seine zweite Frau, Helene Thimig - hatten einander sehr zur Freude der Anwälte von Anfang an nicht das geringste erspart und kaum etwas geschenkt. Nicht zuletzt der aktenmäßige Niederschlag dieser Auseinandersetzungen kommt nun ans Licht der Öffentlichkeit.

Vor kurzem nämlich hat ein junger Wiener Antiquar, Hugo Wetscherek, einen hervorragend edierten Katalog herausgebracht, der einen beträchtlichen Teil des schriftlichen Nachlasses von Max Reinhardt detailliert beschreibt. Der zitatenschwere, zudem mit der ersten umfassenden Reinhardt-Bibliographie angereicherte Band gehört in jede theaterwissenschaftliche Bibliothek. Dabei ist die penible archivalische Erfassung bloß das Nebenprodukt in die Länge gezogener Ankaufsverhandlungen mit der öffentlichen Hand in Österreich. [...]

In dem vom Katalog ausgebreiteten Material mit rund 1700 Nummern steckt eine gewaltige Fülle biographischer, kultur- und zeitgeschichtlicher Informationen. Insbesondere im kompletten Briefwechsel zwischen Max Reinhardt und Helene Thimig aus den Jahren 1917 bis 1943. Ferner in der Korrespondenz mit Gusti Adler und Reinhardts anderer Helferin Karla von Müffling. Neben Restbeständen der Bibliothek aus Schloss Leopoldskron, der Salzburger Sommerresidenz Reinhardts (darunter ein Prachtband über die Versailler Feste Ludwigs XIV.), Hofmannsthal-Autographen, Original-Blättern von Orlik und Corinth finden sich auch aufschlussreiche Dokumente über Reinhardts Scheidung von Else Heims, seine prekäre Finanzsituation, den Zugriff der Nationalsozialisten auf seinen Leopoldskroner Besitz und dessen Rückerstattung nach 1945. Am meisten beeindrucken die Lebenszeichen aus der Emigration, die von Not und Verzweiflung berichten.

Im November 1938 beklagte Max Reinhardt seiner Frau Helene gegenüber das grauenhafte Unrecht in Deutschland: "Es wäre vielleicht leichter zu ertragen, wenn das alles die fluchwürdige Tat eines bösen Genies wäre. Es ist aber ein rasender Tollhäusler, der mit gezücktem Messer herumläuft und herumbrüllt. Dabei werden die Wehrlosen zu Tode gemartert."