Luthers Testament

  • Die Zeit
  • 28 January 2010
  • Stefan Koldehoff

Auf der Antiquariatsmesse in Stuttgart wird ein Autograf Luthers angeboten

Für einen Mann, der fest mit seinem Tod rechnet, ist die Handschrift erstaunlich ordentlich. In schön geschwungenen Buchstaben wendet sich der Theologe Martin Luther im Oktober 1518 an seine Freunde in Wittenberg. Am selben Tag noch will er zu Fuß nach Augsburg aufbrechen, zum Reichstag, auf dem ihn die römische Kurie als Ketzer anklagen und der Dominikaner Thomas Cajetan zwei Tage lang verhören wird. Steht am Ende kein Widerruf, weiß Luther, wird er sterben. Der 31-Jährige hatte den Ablasshandel angeprangert, seine 95 Thesen und das reformatorische Prinzip des allein durch Gnade bestimmten Verhältnisses zwischen Gott und den Menschen formuliert und die Autorität des Papstes angezweifelt. Der Brief an Luthers Freunde, den die Antiquariate Inlibris (Wien) und Kotte (Roßhaupten) nun auf der Stuttgarter Antiquariatsmesse anbieten, gilt der Forschung deshalb als so etwas wie das Testament des Reformators. "Gehabt Euch wohl und beharret standhaft", hinterlässt er seinen Wittenberger Freunden Philipp Melanchthon, Andreas Bodenstein von Karlstadt, Nikolaus von Amsdorf und Otto Beckmann, "weil man entweder von den Menschen oder von Gott verworfen werden muss. Aber Gott ist wahrhaftig, der Mensch jedoch ist ein Lügner."

Auch in diesem Jahr ist die seit 1961 traditionell Ende Januar stattfindende Stuttgarter Antiquariatsmesse nicht der Beginn, sondern bereits der Höhepunkt der Saison für die Sammler von Wiegendrucken, Büchern und Autografen.

Ob die handkolorierte und handsignierte Luxusausgabe von Else Lasker-Schülers Jahrhundert-Lyrikband Theben (Schmidt & Günther, Kelkheim, 12.800 Euro) oder eine Postkarte von Franz Kafka an Max Brod (Kiefer, Pforzheim, 14.500 Euro) - nirgends sonst ist das Angebot bei höchster Qualität so breit.

Ein so einzigartiges Dokument wie Luthers Abschiedsbrief von 1518 wird aber selbst hier nur selten angeboten. Der Forschung war die Epistel lange nur in einigen wenigen, 1719 gedruckten Zeilen bekannt. Das Original galt als verschollen, bis es Ende der sechziger Jahre in der Sammlung des Pathologen H. Spencer Glidden aus Andover bei Boston wieder auftauchte. Auf den Markt kommen Luther-Autografe ohnehin nur selten. Vor acht Jahren erzielte ein Brief von seiner Hand an den Kaplan Mörlin bei Bassenge 68.500 Mark. Ein kurzes Brieffragment brachte im vergangenen November bei Stargardt 50.000 Euro.

280.000 Mark kostet nun Luthers in Stuttgart angebotener testamentsähnlicher Brief. Als vor 99 Jahren der amerikanische Bankier John Pierpont Morgan einen Brief Luthers an Kaiser Karl V. für 102.000 Mark ersteigerte, schenkte er die Handschrift an Wilhelm II. weiter. Der Kaiser gab das Dokument von 1521 ans Germanische Nationalmuseum in Nürnberg. Mehrere Institute hoffen nun auf einen ähnlich großzügigen Mäzen.