Rezension: Bibliotheca Lexicorum (IASL)

  • IASLonline
  • 17 November 2003

Rezension in: IASL (International Association of School Librarianship) online, 17.11.2003
Rezensent: Arno Mentzel-Reuters

“Der 15. Band ist der wertvollste für Buchschlächter …”

Bibliotheca lexicorum: kommentiertes Verzeichnis der Sammlung Otmar Seemann; eine Bibliographie der enzyklopädischen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, unter besonderer Berücksichtigung der im deutschen Sprachraum ab dem Jahr 1500 gedruckten Werke, bearb. von Martin Peche. Nach einem von Otmar Seemann erstellten Gesamtverzeichnis und mit einer mehr als 3000 Titel umfassenden Bibliographie zur Geschichte der Lexikonistik hg. von Hugo Wetscherek (Antiquariat Inlibris. Katalog 9). Wien: Antiquariat Inlibris 2001. 708 S. 120 z.T. farbige Abb. Leinen.
EUR (D) 70,-.
ISBN 3-9500813-5-6.

Sammlung Seemann

Der 1946 in Wien geborene und – nach Ausweis einer aktuellen Homepage – nach wie vor praktizierende Zahnarzt und Lexikologe Otmar Seemann sammelte bis zum Ende der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts Lexika, mit einem Schwerpunkt auf der deutschsprachigen Allgemeinenzyklopädie. Als er sich entschloss, seine Sammlung durch das Wiener Antiquariat Inlibris veräußern zu lassen, umfasste sie mehr als 12.000 Bände. Ihre bedeutendste Einzelprovenienz bildete die Bibliothek des Bibliographen Gert A. Zischka, Verfasser des Index Lexicorum, der 1959 in Wien bei Hollinek erschien. Seemann selbst hat im (Mikrofiche-)Archiv der europäischen Lexikographie des Harald Fischer Verlages in Erlangen mehrere Lexika aus der ersten Hälfte frühen 19. Jahrhunderts mit Kommentar neu herausgegeben; kleinere Monographien befassen sich mit Zischka und den "mit 1811 datierten Drucken des ABGB" (Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches).

Das Antiquariat Inlibris setzte alles daran, die ihm anvertraute Sammlung vollständig weiterzuverkaufen. Auf der Stuttgarter Antiquariatsmesse [1] Ende Januar 2001 wurde sie für DM 460.000 angeboten und konnte an "eine Privatbibliothek im Ausland" veräußert werden. [2] Dort fand sie, wie das Antiquariat auf Anfrage mitteilte, keine dauerhafte Bleibe und stand alsbald wieder zum Verkauf. Letztlich wird also der Katalog das einzige dauerhafte Zeugnis der Sammlung bleiben.

Inhalt des Katalogs

Der Band ist geteilt in den eigentlichen, kommentierten Katalog der 610 Nummern umfassenden Sammlung (S. 9–524), ein Kurzverzeichnis des Archivs Seemann (S. 525 f.), eine 1512 einsetzende Zeittabelle zur Geschichte der Enzyklopädie (S. 527–535), ein Personenregister mit Referenz auf die Katalognummer (S. 537–549) und eine (vornehmlich auf Seemanns Arbeitsbibliothek beruhende) Bibliographie mit 3316 Nummern (S. 551–685, teilweise a- und b-Nummern vergeben). Ein Register zu dieser Bibliographie schließt den Band ab (S. 687–708). Zu erwähnen sind noch die zahlreichen Illustrationen, meist Wiedergabe der Titelblätter, gelegentlich auch einzelne Tafeln aus den Lexika, Werbematerialien oder Portraits.

In einer durchweg positiven Rezension berichtet Klaus Schreiner, selbst bekannter Bibliograph: "Auch wenn es auf dem Titelblatt heißt, daß der Katalog >nach einem von Otmar Seemann erstellten Gesamtverzeichnis< herausgegeben wurde, so ist dieser gleichwohl Urheber der Titelaufnahmen und der Annotationen, die er in einer Datenbank gespeichert hatte". [3] Diese Kommentierung stellt den eigentlichen Wert des Katalogs dar. Denn die reine bibliographische Suchmöglichkeit rechtfertigt ein solches Unternehmen heute nicht mehr: Die online verfügbaren deutschen Bibliothekskataloge liefern mühelos ein weit vollständigeres, bibliographisch korrektes Bild.

Scheitern auf hohem Niveau

Natürlich kann man von einer privaten Sammlung, die innerhalb von nicht einmal 50 Jahren aufgebaut wurde, keine Vollständigkeit erwarten. Die Seemann'sche Sammlung mit ihren 610 Nummern ist jedoch – das muss man bei allem Respekt vor der Sammlertätigkeit und mehr noch den Kommentaren deutlich sagen – sehr weit davon entfernt. Man ist versucht, den Verkauf zu Lebzeiten auch als Eingeständnis des Scheiterns einer solchen Sammlung zu interpretieren. Wenn dem so war, handelt es sich um das sprichwörtliche Scheitern auf hohem Niveau.

Beschreibung von Meyers Konversationslexika

Selbst bei einer schwerpunktmäßigen Beschränkung auf die Lexikonproduktion des 19. und 20. Jahrhunderts ist eine unglaubliche Masse zu bewältigen. Man nehme nur die geschachtelten Auflagen von Meyers Konversationslexikon bis 1918 bzw. des als selbständiges Werk zu verstehendem Meyers Kleinem Konversationslexikon. Die Beschreibungen des großen Meyer in seinen Auflagen sind, zumindest aus der Sicht von Bibliographen, Bibliophilen oder Antiquaren, unschätzbar. Als Beispiel diene die kenntnisreiche Präsentation der 6. Auflage (1902–1908, in verschiedenen Nachdrucken bis 1914, Nachtragsbände bis 1917). Die einzelnen Nachdrucke sowie die kriegsbedingten Zensurmaßnahmen können nach den Kriterien, die S. 381 f. mitgeteilt werden, exakt auseinander gehalten werden; wir erhalten auch statistische Angaben zur Verteilung der Lemmata auf Fachgruppen und Rezeptionszeugnisse (S. 382 f.), selbst die verwendeten Drucktypen werden erörtert (S. 383 f.) Für den Antiquar oder Bibliophilen dienen Hinweise wie "Der 15. Band ist der wertvollste für Buchschlächter, da er die meisten prachtvollen Chromolithographien enthält." (S. 382 f.) Auch die beiden folgenden Auflagen, darunter als 8. der gegen den Willen der Redaktion von der Parteiamtlichen Prüfungskommission für nationalsozialistisches Schrifttum (PPK) zwangsweise indoktrinierte berüchtigte "Nazi-Meyer, werden genau beschrieben. Beim "Nazi-Meyer" können sogar Quellenzitate aus den Akten der PPK nachgelesen werden.

Seltsamerweise wird demgegenüber der "Kleine Meyer" stiefmütterlich behandelt. Der Seemann-Katalog verzeichnet S. 405 Nr. 448 als älteste Ausgabe die 8. Auflage von 1931–1933, [4] die erst durch einen dem dritten Band beigebundenen Nachtrag auf die NS-Ideologie umgebogen wurde. Die älteren Auflagen fehlen, obschon ihre Geschichte nicht minder kompliziert ist als die der großen Schwesterlexika. Die sechste Auflage z.B. war dreibändig. Sie erschien 1898 bis 1899 und bezeichnete sich auf dem Titelblatt als "6. gänzlich umgearbeitete und vermehrte Auflage. Mit über 160 Karten und Bildtafeln in Holzschnitt, Kupferstich und Farbendruck und 100 Textbeilagen". Die "siebente, gänzlich neubearbeitete und vermehrte Auflage in sechs Bänden" erschien 1908–1910 in einem schwarzen Halbledereinband mit rotem Rückenschild. Sie umfasste nach Auskunft des Titelblatts "mehr als 130,000 Artikel und Nachweise mit 639 Bildertafeln, Karten und Plänen sowie 127 Textbeilagen." 1914 erschien die "Siebente, neubearbeitete und vermehrte Auflage, durch einen Ergänzungsband erneuerte Ausgabe. Mehr als 155000 Artikel und Nachweise auf etwa 6500 Seiten. Text mit über 7000 Abbildungen im Text und auf mehr als 680 Bildertafeln, Karten und Plänen sowie 133 Textbeilagen" in einem braunen Halbledereinband mit zwei schwarzen Rückenschildern. Es war ein unveränderter Nachdruck, lediglich der Ergänzungsband beinhaltete etwas Neues.

Abgrenzungsprobleme

Das grundsätzliche Problem einer Lexikonsammlung beginnt jedoch bereits mit der Definition der "Allgemeinenzyklopädie". Die "Zeittabelle" des Seemann-Kataloges (S. 527–535) zeigt gerade in ihrer Auswahl für das 16. und 17. Jahrhundert wenig Verständnis für die theologische Einbettung des allgemeinen Wissens. Der dort nicht genannte Vocabularius Theologiae des Mindelheimer Humanisten Johannes Altenstaig (Erstdruck Hagenau 1517) enthielt nach Aussage des Titelblattes vocabulorum descriptiones, diffinitiones. Damit war der Vocabularius zwar significatus ad theologiam vtilium, wie es dort weiter heißt, aber dennoch ein Zeugnis humanistischer Bildung und Weltsicht, wie überhaupt das Hervorgehen des neuzeitlichen Kompendienwissens aus der spätmittelalterlichen Enzyklopädie nicht berücksichtigt wird.

Für das 16. Jahrhundert wird nun niemand von einem Katalog der Seemann-Sammlung Auskünfte erwarten. Doch ist Heinrich J. Wetzers und Benedikt Weltes Kirchenlexikon, dessen Untertitel Encyklopädie der katholischen Theologie und ihrer Hilfswissenschaften lautet (13 Bände, Freiburg : Herder 1847–1860), nicht wirklich ein theologisches Speziallexikon, sondern eine katholisch geprägte Sammlung des Allgemeinwissens. Die Kluft zu Herders Conversations-Lexikon des gleichen Verlags, der katholischen Enzyklopädie schlechthin, ist nicht sehr groß. Karl Raphael Herder musste sogar feststellen, dass sich das Kirchenlexikon besser verkaufte. [5] Der Grund ist einfach: Das Konversationslexikon richtete sich an die weniger begüterte katholische Bevölkerung (vgl. die Bibliotheca Lexicorum S. 228 f.); ein Hauptabnehmer war der Borromäus-Verein, der entsprechend ausgerichtete Volksbüchereien betrieb. Das Zielpublikum des Kirchenlexikons war der geistliche Stand und das gebildete katholische Bürgertum.

Rang der Erschließungsarbeit

Man könnte solche Abgrenzungsprobleme noch an zahlreichen Stellen aufweisen; wirklich schmälern kann es den Rang der Erschließungsarbeit jedoch nicht, die mit der Bibliotheca Lexicorum geleistet wurde. Man wird, nicht nur als Antiquar, Bibliophiler oder "Buchschlächter", sondern auch als Literatur- oder Kulturhistoriker dankbar sein für die Beschreibung eines jeden Nachschlagewerks. Man wird sich bei den unverkennbaren Lücken eine Fortsetzung oder Ergänzung wünschen, aber es ist sicherlich niemand in Sicht, der diese schwierige und fehleranfällige Mammutaufgabe schultern möchte. Doch zumindest dieser Teil ist jetzt greifbar, und seine Lektüre fördert auch für die kulturgeschichtliche Forschung enorm das Verständnis der heranzuziehenden Nachschlagewerke.


PD Dr. Arno Mentzel-Reuters
Monumenta Germaniae Historica
Postfach 34 02 23
D-80099 München

Copyright © by the author. All rights reserved.
This work may be copied for non-profit educational use if proper credit is given to the author and IASLonline.
For other permission, please contact IASLonline.

Diese Rezension wurde betreut von unserer Fachreferentin Prof. Dr. Ursula Rautenberg. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.


Anmerkungen

[1] Wertvolle Bücher, Autographen, illustrierte Werke, Graphik : ... Verkaufsausstellung ... im Württembergischen Kunstverein ... / Verband Deutscher Antiquare e.V. – Stuttgart. – 40 (2001), S. 64.

[2] Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3.2.2001, Nr. 29, S. 54.

[3] Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 9 (2001), Nr. 6373 (http://www.bsz-bw.de/depot/media/3400000/3421000/3421308/01_0011.html)

[4] Hier wird bedauerlicherweise versäumt, auf den im dritten Band angefügten "Nachtrag" hinzuweisen, der das politisch noch weitgehend freie Lexikon den Anforderungen des Dritten Reiches angleicht. Dies wirft ein bezeichnendes Licht auf die Auseinandersetzung um die achte Auflage des Großen Meyer, die Bibliotheca Lexicorum S. 388–392 hervorragend kommentiert wird.

[5] Vgl. Bibliotheca Lexicorum S. 228.